Let it go, darling

Vom Loslassen, Sammeln und Sortieren

Zu den Reisevorbereitungen gehört für mich vor allem auch die Beschäftigung mit meinem materiellem Besitz:

Wohin nur mit dem ganzen? Was ist das alles und wieviel brauche ich? Das aufgeben meines WG-Zimmers und der Räume hier stellt mich immer wieder auf die Probe: Ganz viel loszulassen. 
In den letzten Jahren bin ich das ein oder andere Mal umgezogen, nun bin ich an dem Punkt angekommen, wo ich all meinen Besitz ausschließlich dort habe wo ich lebe. Und den Ort werde ich in absehbarer Zeit aufgeben.

Es sind in den letzten Monaten immer wieder Kisten mit meinen Sachen zu mir gekommen, ob von der vorherigen Beziehung oder aus meinem Elternhaus, ob gebracht oder mitgenommen, alle haben sie eins gemein:

Sie sind hier und es ist ziemlich viel. In stundenlanger Auseinandersetzung mit dem was war, was ich erlebt habe und was sich angesammelt hat gehe ich Stück für Stück Vergangenheit durch. Schlagartig sind wieder Bilder und Erinnerungen da, bestehend aus allen Farben und Gefühlen. Bunt und hell bis tiefschwarz, laut und leise, ruhig bis aufwühlend. 
Schrittweise lasse ich alles nochmal durch meine Hände wandern und stelle fest, dass loslassen doch gar nicht so einfach ist. Immer wieder halte ich mich davon ab einfach alles ungesehen in große Säcke zu stopfen, um es schnell zu entsorgen.

Keine Auseinandersetzung, kein Nachdenken. Aus den Augen, aus dem Sinn. Doch dann klopft doch die Neugier an…

…da seh ich doch einen Zipfel meiner alten Schreibhefte, und ist überhaupt noch was auf dem alten Handy drauf, oh, die Sandsteinskulptur hab ich doch mal geschenkt bekommen. Bin also wieder mittendrin. Bis ich mich dem hingebe. Der Reise in Erinnerungen und Emotionen. Zwischen beschrifteten Bergen wie “Müll”, “Behalten”, “Verschenken”, “Flohmarkt”. Der Behalten-Stapel ist der kleinste, der größte fürs Verschenken. Einiges wird in der Wg bleiben, das freut mich. Manchmal schmerzt es, wenn ich Mitbewohnende mit meinen erinnerungsreichen Stücken sehe, doch nur einen kurzen Moment und ich freue mich, dass sie ein weiteres Leben bekommen. 


Nun sitze ich auf dem alten Dielenboden meines Zimmers, es dämmert draußen bereits, im Hintergrund leise Musik und meine Lichterketten hab ich auch schon angemacht. Um mich herum das wildeste Chaos. Neben mir befindet sich noch alles andere auf dem Boden: Kleidung, Stoffe, Papier, ein Plüschfisch in knallneonorange (trägt den Namen Jorge und ist noch aus Venezuela Zeiten) und erstaunlich viele Flaschen Nagellackentferner (wo kommen die alle her?) All das verteilt durch mein Zimmer und den Hausflur, inklusive Gemeinschaftssofa. Auch in mir ist es aufgewühlt. 
“Wer bin ich? Was sagen all diese Dinge über mich aus? Wofür behalten? Ist emotionaler Wert eine Legitimation zum ansammeln von Sachen?“
Manchmal mache ich Fotos von Sachen und tue sie dann auf einen der Stapel. Damit die Erinnerung bleiben kann. Manches möchte ich tatsächlich noch etwas bei mir behalten, wie das alte Spiel, was ich mit meinem verstorbenen Opa immer am Küchentisch gespielt und geliebt habe oder die wiederentdeckten Schreibhefte.

„Wenn ich Gegenstände aus der Vergangenheit loslasse, geht dann auch ein Stück meiner Identität?“ 

Es gilt immer wieder nach vorne zu blicken.

Immer wieder nach vorne blicken

Eine eindeutige Antwort auf die Fragen wird es wahrscheinlich nicht geben. Nur wieder einmal aufs neue der Wunsch Momente bewusst wahrzunehmen. Da sein, Leben geschehen lassen und mich mittendrin reinbegeben. Die Hoffnung, dass alle Erinnerungen, ob ich sie präsent habe oder nicht, mich zu dem Menschen gemacht haben, der ich bin. Die Fragmente sind wie Puzzleteile eines großen ganzen und das trage ich immer bei sowie in mir. Also auf gehts, neue Erinnerungen zu schaffen, um weiter zu wachsen und schauen, wer ich noch alles werden kann.

Abschied

Februar 2, 2019

Antofagasta

März 10, 2019